Autisten und die Empathie
Wer kennt es nicht - das Vorurteil, das Autisten wenig bis keine Empathie besäßen? Ich habe in meinem letzten Blogbeitrag erwähnt, dass Vorurteile eine Form von Vorwegnahme und damit Teil der Prädiktion sind[1]: Dem Vorgang, der es Nicht-Autisten ermöglicht, schneller auf eine Situation zu reagieren, als es Autisten zumeist tun, da sie auf ein viel stärker ausgeprägtes Arsenal von Annahmen und vorgegebenen Schemata zurückgreifen. Dass dies aber nicht immer ein Vorteil ist, zeigt sich gerade an Vorurteilen, von denen sicher jeder von uns sofort einige parat hat, auch viele Autisten - besonders in Bezug auf sich selbst. Denn die Kehrseite dieser Geschwindigkeit ist, dass sie durch die Reduktion komplexer Sachverhalte ermöglicht wird. Dem ist hinzuzufügen, dass die Sachverhalte, die gerne als Beispiel für den Sinn der Prädiktion herangezogen werden, generell nicht sehr komplex sind: Unsere Urahnen waren konfrontiert mit dem Herannahen eines hungrigen Tigers? – Flucht oder Kampf: Zwei bedeutsame Punkte im Bezug auf den Kontext. Da kann man sich schnell entscheiden. Ein Tennisball jagt während eines Spiels auf uns zu und wir müssen wissen, wo er ankommt, bevor er es tut, um den Schläger in die richtige Position heben zu können? - Ohne Prädiktion unmöglich. Dieses Beispiel mit dem Tennisball verwendet Vermeulen bevorzugt in seinem Buch über Autismus und das prädiktive Gehirn der Nicht-Autisten, um so die Wichtigkeit der Prädiktion zu erklären. Sie ist zweifellos wichtig, aber das Problem daran, wie er selbst auch zugibt, ist, dass der Umgang mit Menschen und die zahlreichen Situationen und Hintergründe, in denen dies geschieht, sich nicht auf ein oder zwei wichtige Punkte reduzieren lassen. In globalisierten, vernetzten und komplexen Gesellschaften kommt kaum einer von uns mit weniger als zehn Punkten davon, die er beim Einschätzen einer Situation berücksichtigen muss. Das Abtasten dieser Punkte bezeichnet man als Kontextsensitivität. Ein prädiktives Gehirn nimmt vieles durch Automatismen vorweg, was der Autist erst bewusst Stück für Stück abtastet. Gerade im Kontakt zwischen Autisten und Nicht-Autisten zeigt sich jedoch ein Dilemma der Vorwegnahme: Sie funktioniert nur bei Menschen, deren Verhalten, die angenommenen Schemata auch bedient. Bei Menschen, die sich nicht so verhalten, wie man es erwartet, versagen sie. Das ironischste Beispiel dafür ist gerade die Empathie: Denn trotz dieser Fähigkeit, die von Nicht-Autisten gegenüber so oft als Vorteil gegenüber Autisten betont wird, versagen sie oft darin, sie bei diesen einzusetzen. Sonst wären sie nicht so oft überfordert, dass Verhalten von Autisten einzuschätzen und es gäbe deutlich weniger Bücher von Nicht-Autisten, die das Verhalten von Autisten vermeintlich erklären, diese Erklärungen jedoch ausschließlich für andere Nicht-Autisten machen.
Die grundlegende Frage dieses Artikels wird deshalb nicht nur sein, warum Autisten Empathie so verwenden, wie sie es eben tun - denn auch Autisten haben Empathie - sondern ebenso, warum bei Nicht-Autisten diese oft sehr merkwürdige Wege geht, wenn sie es mit einem Autisten zu tun bekommen.
Empathie und Mitgefühl
Die erste Frage, die wir uns im Bezug darauf stellen müssen, lautet natürlich: Was ist denn Empathie eigentlich? Und das ist keineswegs einfach zu beantworten, denn viele Menschen verwechseln Empathie mit Mitgefühl. Sie glauben, Empathie wäre der Schlüssel zu altruistischem Verhalten, gegenseitigem Verständnis und gelingendem Miteinander. Das ist eine Annahme, die sich aus der Gleichsetzung dieser beiden Begriffe ergibt. Es gibt jedoch sehr empathische Menschen, die unglaublich gut darin sind, zu fühlen, was in anderen vor sich geht - und die es dennoch nicht berührt. Tatsächlich sind Mitgefühl und Verständnis nur eine Möglichkeit von vielen, die sich aus dem Gebrauch der Empathie ergeben können. Die guten Seiten der Empathie sind uns allen bekannt - doch eine gut funktionierende Empathie ist ebenso die Vorrausetzung für Manipulation, Ausnutzung und gezielte Demütigung anderer Menschen.[2] Bei Empathie handelt es sich um ein Werkzeug, nicht um eine moralische Instanz und gerade die negativen Aspekte dessen, wozu sie in der Lage ist, sind keine Ergebnisse einer fehlerhaften, sondern einer besonders gut funktionierenden Empathie.[3] Sie spielt in einer Reihe von hochproblematischen menschlichen Verhaltungsweisen wie Ausbeutung, Unterdrückung und auch Sadismus eine zentrale Rolle. Dieses Verhalten entsteht nicht trotz, sondern gerade aufgrund von Empathie. Und es ist nicht auf einzelne problematische Individuen beschränkt, sondern Bestandteil zahlreicher alltäglicher Phänomene, die unser Zusammenleben bestimmen - so z.B. die Anwendung von Freund-Feind-Schemata, das Denken in simplifizierten Kategorien von Gut und Böse und Schwarmverhalten. Dies alles würde ohne empathisches Mitfühlen mit anderen Menschen nicht stattfinden. Empathie ist jedoch in erster Linie etwas Menschliches, wenn auch nicht allein diesen vorbehalten. Und wie bei allem Menschlichen hat sie Aspekte, die zu begrüßen sind und solche, die es nicht sind.
Empathie führt nicht zwangsläufig auch zu mitfühlender Anteilnahme am Erleben des Anderen. Es ist zu betonen, dass auch sehr empathische Menschen niemals wirklich genau das fühlen, was in einem anderen Menschen vor sich geht, sondern immer nur eine Reduktion davon, die einzelne Aspekte weglässt oder sich sogar nur auf einzelne Aspekte überhaupt konzentriert. Es ist auch gar nicht anders möglich. Denn jeder Mensch besitzt ja noch sein eigenes inneres Erleben, an dem das des anderen „andockt“ und von dem ausgehend sich hineingefühlt wird. Würde er das gesamte Innenleben eines anderen in sich hineinlassen, würde sein Kopf platzen. Oft ist das Empfinden bestimmter Aspekte dieses Gefühlslebens aber auch mit positiven Effekten für das eigene Gefühlsleben gekoppelt, die für den anderen aber teilweise überhaupt nicht positiv sind. Ein besonders negatives Beispiel in dieser Hinsicht ist das Machtgefühl, das empathische Sadisten empfinden, je stärker sie die Angst und den Schmerz ihrer Opfer empfinden. Ein weitaus alltäglicheres, wenn auch ebenfalls negatives, Beispiel ist die Parteinahme. Konflikte eskalieren oft nicht trotz, sondern gerade wegen empathischen Mitfühlens und daraus resultierendem Beschönigen der gewählten Seite. Ein in dieser Hinsicht bedeutender Fehler, der uns ebenfalls oft unterläuft, ist das Verwechseln von Empathie mit bloßer Identifikation. Anstatt mit einem notleidenden Menschen mitzufühlen, identifiziert man sich mit seinem Retter und Helfer bzw. imaginiert sich als einen solchen. Es fördert das Wohlbehagen des empathisierenden Menschen und gib ihm das Empfinden persönlicher moralischer Adelung auf Kosten eines anderen Menschen, der zum bloßen Werkzeug dieses Effekts reduziert wird. [4] Dieses Verhalten war früher und ist teilweise heute noch immer wieder im Umgang von Nicht-Behinderten mit behinderten Menschen zu beobachten und wird von unsereins sehr stark kritisiert. Denn es führt dazu, dass behinderte Menschen nicht als ebenbürtig wahrgenommen und akzeptiert werden. Genau dies ist es jedoch, was sie sich von ihren Mitmenschen wünschen. Fritz Breithaupt wählte für diesen problematischen Aspekt der Empathie jedoch ein anders Beispiel und bezog es auf die Flüchtlingspolitik von Angela Merkel im Sommer 2015.[5]
Ein weiterer Begriff, der neben dem Mitgefühl, zumeist mit Empathie zusammen genannt wird, ist die sogenannte Theory of Mind. Sie bezeichnet einen bestimmten Ansatz in der Empathie-Forschung und meint, grob gesagt, die Modelle des Verstehens anderer und wird auch als Mind Reading bezeichnet - also, Einblicke in das Denken eines anderen nehmen. Es geht darum, sich der Unterschiede im Denken des anderen im Vergleich zum eigenen Denken bewusst zu sein. Hierzu gehört auch das Ansammeln von Wissen darüber, was Menschen unter bestimmten Umständen denken und fühlen - umgangssprachlich auch als Volkspsychologie bezeichnet. Auch die Frage, inwieweit die Theory of Mind Voraussetzung dafür ist, aufgrund eigener vergangener Erfahrungen ähnliche Zustände bei anderen erkennen zu können, gehört zu diesem Themenkomplex.
Auch Autisten können durch das Ansammeln von Wissen und eigenen Erfahrungen, gepaart mit dem Verfahren der Deduktion, meist eine gute Theory of Mind entwickeln. Die Theory of Mind zielt aber in erster Linie auf die mentalen Einstellungen und nicht auf empathisches Mitfühlen, auch wenn dieses Teil davon sein kann und es auch oft ist. An dieser Stelle eine gute Nachricht für alle literaturbegeisterten Lesehungrigen unter den Autisten: Eine vielbeachtete jüngere Studie hat gezeigt, dass das Lesen hochwertiger literarischer Texte die Fähigkeiten der Theory of Mind deutlich verbessert. Aufgrund dieser Ergebnisse wird angenommen, dass der Aufbau einer guten Theory of Mind in erster Linie ein intellektueller Prozess ist, der sich ohne emotionale Wertung und das Verharren in Gut-oder-Böse-Schemata vollzieht.[6] Es handelt sich bei ihr letztlich um eine intellektuelle Form der Empathie, die jedoch nicht automatisch die emotionale Bindung des empathischen Mitfühlens erzeugt. Man lernt einfach etwas über den anderen, ohne empathische Anziehung oder Abstoßung und ohne Wertung[7].
Autisten und die Empathie
Somit besitzen letztlich auch Autisten verlässliche Wege, zu erkennen, was in anderen Menschen vor sich geht. Und häufig werden sie auch als außerordentlich mitfühlend beschrieben - nachdem es ihnen gelungen ist, herauszufinden, mit was sie denn fühlen sollen. Wenn Autisten jedoch zu tiefem Mitgefühl fähig sind und außerdem das intellektuelle Werkzeug der Theory of Mind besitzen, was sind dann die Gründe für ihre leidige Beziehung zur Empathie?
Sie ist zunächst eine Falschannahme, da sie die intuitive Form der Empathie der meisten Nicht-Autisten als einzige Form von Empathie ansieht. In dieser sind Autisten tatsächlich oft nicht sehr gut. Autisten verwenden jedoch eine andere Form der Empathie, die - wie nahezu alles, was an ihnen auffällt - mit ihrer speziellen Informationsverarbeitung zusammenhängt. Die intellektuelle Empathie der Autisten trägt der starken Auslastung des Gehirns durch ihre Wahrnehmung Rechnung. Es ist darauf hingewiesen wurden, dass auch Nicht-Autisten nur einen gewissen Anteil des Innenlebens ihres Gegenübers empathisch mitempfinden können. Diese, zumeist als „Empathie-Blockade“ bezeichnete Reduzierung hat nicht nur ökonomische Gründe bezüglich der Energie, die uns für das Verarbeiten emotionaler Prozesse bei uns und anderen, zur Verfügung steht - sie fungiert auch als eine Art Selbstschutz. Wer sich zu sehr auf das Innenleben eines anderen einlässt, der läuft Gefahr, darin zu ertrinken und handlungsunfähig zu werden. Wer vollständig die Angst und Hilflosigkeit eines Menschen in einer Notsituation erlebt, würde davon innerlich aufgesogen werden, besäße keine Möglichkeit mehr, seine Situation von der des anderen abzugrenzen und wäre auch nicht in der Lage, ihm zu helfen. Dies berührt die Punkte, die letztlich auch der Grund für die Andersartigkeit der autistischen Empathie sind: Energieeinsparung und Selbstschutz.
Auch jeder Nicht-Autist kennt die Erfahrung, dass soziale Interaktionen erschöpfen, auch wenn sie Menschen gelten, mit denen man gerne Zeit verbringt. Ihre Verarbeitung erfordert enorme Kapazitäten im Gehirns - die ein Autist jedoch für andere Dinge nutzt. Denn die autistische Informationsverarbeitung mit ihrer starken, von Detail zu Detail gehenden Erschließung und wenig Energieeinsparung durch vorwegnehmende Automatismen verschlingt bereits einen Großteil der mentalen Energie. Entsprechend verarbeitet ein Autist auch im menschlichen Miteinander erfasst Situationen anders, nämlich hauptsächlich durch Informationen, die er erst in der Situation selbst wahrnimmt - nicht durch vorwegnehmende Annahmen.[8] Dadurch muss ein autistisches Gehirn während sozialer Interaktionen deutlich mehr Arbeit vollziehen, für die es aber, aufgrund der Auslastung durch die eigene Wahrnehmung, deutlich weniger Energie zur Verfügung hat als ein Mensch ohne Autismus. Auch brauchen Autisten dadurch schlicht mehr Zeit, um auf das Gegenüber adäquat zu reagieren, was ihnen leicht als Gleichgültigkeit oder mangelndes Interesse am anderen ausgelegt werden kann. Eine gute Theory of Mind unterstützt die situative Verarbeitung für den Autisten jedoch. Denn je mehr Wissen wir besitzen, desto zahlreicher sind die Anknüpfungspunkte, die unser Gehirn neuen Informationen bietet, und umso schneller wird dadurch unsere Reaktions- und Verarbeitungsgeschwindigkeit in Bezug auf diese. Auch kann die Theory of Mind in weitaus umfassenderem Maße durch den Autisten selbst verbessert werden, als dies bei den oft automatisierten Vorwegnahmen möglich ist. Natürlich erfassen dennoch auch Autisten gewisse Anteile des Gegenübers intuitiv, nur nicht so umfangreich wie ein Nicht-Autist.
Auch kann das empathische Einfühlen für Autisten eine sehr niederträchtige Ironie mit sich bringen: Denn Empathie dupliziert die Wahrnehmung noch einmal, da man ja plötzlich auch das wahrnimmt, was der andere wahrnimmt bzw. zumindest Teile davon. Da dies ein autistisches Gehirn jedoch überlasten würde, geht die Empathie bei ihnen den Weg über die Theory of Mind, die zunächst Informationsaufnahme über den anderen betrifft. Empathisches Mitempfinden kann und ist oft eine Folge davon, sie ist ihr jedoch zeitlich nachgeordnet. Jedoch kann sie einen genauso guten Umgang mit Mitmenschen ermöglichen wie die intuitive Empathie der Nicht-Autisten. Auch befähigt sie Autisten genauso zu Mitgefühl wie den Nicht-Autisten seine Form der Empathie.
Aber warum haben Nicht-Autisten selbst oft so ein großes Problem damit, sich empathisch in Autisten einzufühlen?
Es hängt damit zusammen, dass Autisten die Schemata der erwarteten Verhaltensweisen oft nicht bedienen, mit denen das prädiktive Gehirn eines Nicht-Autisten auch in der Empathie operiert. Dass sie das nicht tun, ist etwas Normales - denn wenn Menschen, Situationen unterschiedlich wahrnehmen, reagieren sie auch unterschiedlich auf diese. Es versetzt die Nicht-Autisten jedoch in die ironische Situation, an das Innenleben des Autisten eigentlich nur herankommen zu können, indem sie sich dessen Form der Empathie bedienen: Der Umgang mit Autisten gelingt nur über eine Anreicherung der Theory of Mind mit möglichst viel Wissen über Autismus und eine sehr konzentrierte Genauigkeit in Bezug auf die Informationen, die die Situation selbst über diesen preisgibt. Die wenigsten Nicht-Autisten tun dies jedoch. Warum? Dafür gibt es zwei Gründe:
Erstens: Nicht-Autisten sind diese Form der Empathie schlicht nicht gewohnt, denn sie sind dafür konzipiert, einen Großteil der empathischen Arbeit intuitiv zu vollziehen. Die intellektuelle Theory of Mind operiert jedoch mit der konsequenten Verarbeitung und Analyse von Daten. Autisten sind es gewohnt, dies ständig zu tun, da ihre spezielle Form der Informationsverarbeitung darauf ausgelegt ist, ständig große Datenmengen wahrzunehmen und zu verarbeiten, unabhängig davon, was sie gerade tun. Entsprechend besitzt ein autistisches Gehirn dafür auch mehr Kapazitäten als ein nicht-autistisches, da dieses nicht darauf angewiesen ist. Auch handelt es sich bei der Arbeit der Theory of Mind um eine Denkleistung, die sich bewusst vollzieht, anders als das intuitive und unbewusste Einfühlen. Entsprechend verbraucht sie auch viel mehr mentale Energie und erschöpft demnach im zwischenmenschlichen Kontakt viel schneller. Dies ist auch der Grund dafür, dass Autisten soziale Interaktionen viel stärker reduzieren und viel stärker planen müssen, bei welchen Menschen sie sich darauf einlassen können.
Der zweite Grund liegt darin, dass Autisten es im zwischenmenschlichen Kontakt gewohnt sind, dass ihr Gegenüber anders funktioniert als sie. Da Autisten nur einen sehr kleinen Teil der Bevölkerung ausmachen, sind sie es entsprechend gewohnt, dass ihre Gesprächspartner Nicht-Autisten sind, bei denen sie mit intuitiven Annahmen nicht sehr weit kommen würden. Umgekehrt trifft das nicht zu: Die Gesprächspartner von Nicht-Autisten sind in der Regel selbst Nicht-Autisten, bei denen die automatisiert und intuitiv agierenden Annahmen In der Regel meist gut funktionieren. Durch diese Gewohnheit mit dem anderen mitschwingen zu können, entsteht aber bei vielen Nicht-Autisten auch schneller eine Abwehrreaktion, wenn sie dann doch mal an einen Autisten geraten, bei dem dies nicht verfängt. Dass das darin mitschwingende Unverständnis durch die intuitive Empathie auch schnell dazu neigen kann, intuitiv mit Abwertung zu reagieren, ist ebenfalls eine der problematischen Seiten der Empathie, die mitverantwortlich für viele zwischenmenschliche Konflikte ist.
Letztlich hat es die Empathie der Nicht-Autisten also beim Autisten genauso schwer, wie dessen Empathie bei ihnen. Es macht aber einen Unterschied, ob man das weiß und in der Kommunikation im Blick hat, oder, ob die Schuld an der misslingenden Kommunikation allein dem Autisten zugeschrieben wird, da dieser angeblich keine Empathie besäße[9] und die Empathie der Nicht-Autisten nur deshalb bei ihnen versagt, weil Autisten ohnehin keine Gefühle hätten, die man wahrnehmen könnte. So lautet zumindest ein gängiges Vorturteil. Diesem Impuls erliegen Nicht-Autisten deutlich häufiger, als die Autisten, wenn sie die Grenzen ihrer Form der Empathie zu spüren bekommen, da das intuitive Einfühlen schneller dazu neigt, zu werten. Hinzu kommt allerdings auch das Phänomen sozialer Dynamik. Denn Nicht-Autisten sind in jeder Gesellschaft in der absoluten Mehrheitsposition - es gibt keine einzige Ausnahme. Autisten machen, trotz der Popularität, die dieses Phänomen, samt steigender Selbst- und Fehldiagnosen angenommen hat, nicht mehr als 1% einer Bevölkerung aus, und zwar jeder Bevölkerung. Nicht-Autisten sind deshalb nicht so oft darauf angewiesen, sich mit der Form der anderen Empathie von Autisten auseinanderzusetzen. Zumindest scheint es so, tatsächlich wird es aber zum Problem, wenn man infolgedessen dazu neigt, Autisten moralisch abzuwerten, indem man für alles, was zwischen ihnen und Nicht-Autisten schiefläuft, nur eine der beiden Parteien in die Verantwortung nimmt. Die Konfrontation mit Autisten konfrontiert Nicht-Autisten immer auch mit ihren eigenen Grenzen und der eigenen Unzulänglichkeit im zwischenmenschlichen Miteinander, und nicht nur der des anderen. Dies führt häufig, intuitiv bedingt, zu reflexartigem Abwehrverhalten bei Nicht-Autisten. Dieses hat seine Wurzeln in einer langen vorhandenen historischen Praxis, nämlich der Ansicht, hinter der Andersartigkeit der Phänomene, die heute den Bereich der Psychologie und Psychiatrie ausmachen, stehe keine medizinische Ursache, sondern ein moralischer Fehler. Es ist möglich, dass diese ebenfalls ein Produkt der intuitiven Empathie ist, wenn auch sicher nicht seine alleinige Ursache. Noch im 19. Jahrhundert, als die moderne Psychiatrie entstand, lieferten sich Moralität und Medizin auf diesem Feld erbitterte Auseinandersetzungen. Das ist ein Problem, nicht nur im Umgang mit Autisten, denn der Zweck von Moral ist immer, die Mitglieder einer Gesellschaft zu einen und nicht sie zu entzweien. Dennoch ist dieser Reflex immer noch vorhanden. In der Psychoanalyse wird er heute als „Die Projektion des schwächeren Teils“ bezeichnet: Man schiebt damit eigene Unzulänglichkeiten anderen unter. Oft aufgrund eines idealisierten Selbstbildes, das dadurch geschützt wird, die eigene Fehlerhaftigkeit zu leugnen. Diese Annahme entspringt einem Eindruck, den nicht nur ich häufig beim Lesen von Büchern habe, in denen Nicht-Autisten anderen Nicht-Autisten erklären, wie Autisten funktionieren. Oft wirken diese Texte zwanghaft bemüht - auch wenn sie die Vorteile, die Autisten in manchen Dingen gegenüber Nicht-Autisten haben, zur Kenntnis nehmen - dem nicht-autistischen Leser mit fast jedem Satz zu vermitteln, dass es dennoch praktischer ist, kein Autist zu sein. Das mag tatsächlich zutreffen, aber es liegt nicht daran, dass Nicht-Autisten an sich die besser programmierten Menschen wären, sondern daran, dass sie schlicht in der Mehrzahl sind und Dinge deshalb an ihrer Funktionsweise ausgerichtet sind. Wäre es umgekehrt, wären viele Eigenschaften, die Nicht-Autisten an sich in diesen Büchern herausstellen, plötzlich nicht mehr so praktisch. Ein Kennzeichen der Projektion des schwächeren Teils ist vor allem, dass sie nicht differenziert, sondern pauschalisiert. Das tritt in aller Regel bei Phänomenen auf, über die die Betreffenden nur wenig Wissen besitzen, anhand dessen sie differenzieren könnten: Sie sind also das Ergebnis einer schwachen Theory of Mind in den jeweiligen Bereichen. Sie könnten gemäß sokratischer Denkweise auch mit dem Wissen operieren, dass sie in bestimmten Bereichen nicht viel Wissen haben. Hier ist die intuitive Wertung aber oft schneller als die Selbstreflexion, die Zeit und mentale Energie in Anspruch nimmt.
Fazit
Letztlich sind sowohl die Empathie der Autisten und die der Nicht-Autisten jeweils nur ein Weg mit anderen zu agieren und beide Formen der Empathie besitzen Vor- und Nachteile. Für den Autisten, der in vielen Bereichen nicht intuitiv von sich auf andere schließen kann, ist die intuitive Form der Empathie oft kein guter Weg, da er es bei anderen auch meistens wirklich mit dem Anderen zu tun hat. Ein Autist, der mit einem anderen Autisten interagiert, kann sich dabei viel stärker auf Intuition verlassen als im Kontakt mit einem Nicht-Autisten. Dies wird dadurch illustriert, dass viele Missverständnisse, zu denen es zwischen Autisten und Nicht-Autisten kommt, im Kontakt zwischen Autisten untereinander nicht auftreten.
Beim Nicht-Autisten hingegen ist die intuitive Empathie im Umgang mit Autisten ebenfalls nur geeignet, wenn sie durch ein umfangreiches Wissen über Autismus unterstützt wird. Es handelt sich dabei um Informationen, die man intuitiv schlichtweg nicht wissen kann. Deshalb ist für umfangreiches Wissen über ein Thema die Theory of Mind zuständig - nicht die Intuition, die von dem ausgeht, was sie bereits weiß. Diese intellektuelle Form der Empathie erfordert jedoch ungleich mehr Energie, da sie nicht nur permanent Daten auswertet, sondern immer auch im Rückgriff auf Gedächtniskapazitäten operiert. Tatsächlichen neigen Autisten oft auch intuitiv stärker zu dieser Form der Empathie, da sie es schlichtweg gewohnt sind. Das ist ein Nicht-Autist nicht.
Trotz einer guten Theory of Mind ist letztlich jedoch niemand von uns dagegen gefeit, etwas nicht zu wissen. Und unabhängig von einer guten Intuition ist niemand dagegen gefeit, eine Situation aufgrund seiner Empfindungen falsch zu beurteilen. Und wir alle werden immer wieder in dieser Situation sein. Somit ist letztlich das Wissen, um das Wissen, das uns fehlt, immer ein unentbehrlicher Teil des Prozesses, zu wirklichem Verständnis gewesen.
[1] Peter Vermeulen, Autismus und das prädiktive Gehirn. Absolutes Denken in einer relativen Welt, Freiburg im Breisgau 2024.
[2] Vgl. dazu Fritz Breithaupt, Die dunklen Seiten der Empathie, Berlin 2017.
[3] Wer sich darauf näher einlassen will, dem sei die US-amerikanische TV-Serie „Hannibal“ ans Herz gelegt. In der zweiten Ausgabe des, mittlerweile leider eingestellten, N#mmer-Magazins wurde sie als überzeugende Darstellung dessen gewürdigt, wie unterschiedlich der Gebrauch der Empathie und das daraus resultierende Verhalten sein kann. Die Serie unterstreicht „die essenziellen Gemeinsamkeiten“ der empathischen Begabungen zwischen dem autistischen Protagonisten Will Graham und dem Psychopathen Hannibal Lecter. Wills Vorgesetzte halten seine sozialen Schwierigkeiten für eine Schwäche, Hannibal erkennt jedoch, dass Will dieses Verhalten zu bewusst seinen Gunsten einsetzt.
Hannibal: „Wissen Sie, Will, ich glaube, Onkel Jack (FBI-Direktor Jack Crawford) sieht Sie als eine zerbrechliche kleine Teetasse. Das feinste Porzellan, das man nur für besondere Gäste benutzt.“
Will: „Und als was sehen Sie mich. Dr. Lecter?“
Hannibal: „Den Mungo, den ich mir unter dem Haus wünsche, wenn die Schlangen vorbeigleiten.“ Vgl. Stephen Totterdell, Im falschen Film? Die kinematografische Repräsentation von Asperger und AD(H)S, in: N#mmer. Das Magazin für Autisten, AD(H)Sler und Astronauten, Nr.01/2015, S. 7-16, hier S.8.
[4] Breithaupt, Die dunklen Seiten der Empathie, S. 22-23.
[5] Ebd., vgl. den Exkurs „Deutschland, Weltmeister der Empathie: Angela Merkel und die Flüchtlinge“, S.140-148.
[6] Vgl. David Comer Kidd und Emanuele Castano, “Reading Literary Fiction Improves Theory of Mind”, in: Science 342, Nr. 6156 (2013), S.377-380.
[7] Breithaupt, die dunklen Seiten der Empathie, S. 32
[8] Vermeulen, Autismus und das prädiktive Gehirn, S. 143.
[9]Daniela Mocker, Fünf Dinge über Autismus, die häufig missverstanden werden, in: Spektrum.de vom 01.04.2026. Vielleicht geht es nur mir so, aber Artikel, die Vorurteile über Autisten abbauen sollen, sollte man vielleicht nicht unbedingt am 1. April posten.