Der Sonnenstein - einst ein Zentrum humanistischer und moderner Psychiatrie
Schließlich begleitete mich meine Mutter zu der Gedenkstätte. Der Sonnenstein - eine ehemalige Festung auf einem Vorsprung des Elbsandsteingebirges - entstand im 13. Jh. aus einer slawischen Burgbefestigung, die die Sorben angelegt hatten. Von hier aus sicherten die Markgrafen von Meißen die Wege von Stolpen nach Prag und vom Königsstein nach Meißen. 1811 zog der, bei dem französischen Psychiater Philippe Pinel ausgebildete, Arzt Ernst Gottlob Pienitz mit 250 als heilbar angesehenen Patienten auf den Sonnenstein. Nach einer kurzen Unterbrechung durch die napoleonischen Truppen, die die ehemalige Festung von September 1813 bis zur Kapitulation im November 1813 besetzt hielten, entwickelte sich der Sonnenstein durch sein reformpsychiatrisches Konzept rasch zu einer Musteranstalt von europäischem Rang und Ärzte unterschiedlichster Länder und Heilanstalten reisten zur Weiterbildung nach Pirna. „Die Sonne der deutschen Psychiatrie ging auf dem Sonnenstein bei Pirna in Sachsen auf“, resümierte der Medizinhistoriker Gerhart Zeller.[1] Dort sollte sie auch untergehen und es ist ein makaberes Detail, dass in der Sprache, der dort seit dem 4. Jh. ansässigen Sorben der Name Pirna bedeutet: Glühende Asche. [2] Wahrscheinlich befand sich hier ein Brandopferaltar oder eine Feuerrodungsstätte. Während der Krankenmorde jedoch schütteten dort die „Brenner“ die Asche der Ermordeten den Elbhang hinunter. Welchem Ziel sie ‚geopfert‘ wurden, wissen wir inzwischen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in den Gebäuden der ehemaligen Anstalt ein Flüchtlings- und Quarantänelager, während der DDR ein Werk zur Herstellung von Stahltriebwerken betrieben. Die Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein ging aus einer Initiative während der noch bestehenden DDR hervor. Im September 1989 wurde in der evangelisch-lutherischen Kirchgemeinde Pirna-Sonnenstein die Wanderausstellung „Aktion T4 - Die Tötung lebensunwerten Lebens“ gezeigt, nachdem es dem dortigen Pfarrer gelungen war, mit dem bundesdeutschen Historiker und Publizisten Götz Aly Kontakt aufzunehmen. Den Eröffnungsvortrag hielt der Leipziger Theologe und Kirchenhistoriker Kurt Nowak, der bereits 1971 mit einer Arbeit über „Euthanasie“ und Sterilisierung im „Dritten Reich“ promoviert hatte[3]. Bis die Gedenkstätte eröffnet werden konnte, vergingen jedoch noch zehn, mit den Problemen der Nachwendezeit ringende, Jahre.
Gedenkstätte und Behindertenwerkstatt
Sowohl meine Mutter als auch ich hatten zunächst Probleme uns auf dem Sonnenstein zurechtzufinden. Nicht nur ich war erstaunt über die vielen Büros, die sich um das ehemalige Tötungsgebäude drängten. Auch befand sich in weiteren Gebäuden des Schlosses ein Hotel. Ihre Nähe zu der ehemaligen Mordstätte irritierte mich und jeder, der schon einmal eine KZ-Gedenkstätte besucht hat, wird verstehen, warum. Die seltsame und bedrückende Atmosphäre an diesen Orten ist in aller Regel für jeden von uns ein Grund sich nach dem Gedenkbesuch schleunigst aus dem Staub zu machen. So schien mir diese Ansiedlung in direkter Nähe seltsam. Ich würde nicht dauerhaft in der Nähe eines solchen Ortes sein wollen, auch als Historikerin nicht. Aber ich hatte mich in diesem Fall wenigstens selbst dazu entschieden, dorthin zu gehen. Als meine Mutter und ich das ehemalige Haus C 16, in dessen Keller sich die Gaskammer und das Krematorium befunden hatten, fanden, hörten wir plötzlich klagende Schreie aus dem Gebäude. Kurz darauf kam uns durch einen durchsichtigen Schlauch eine Gruppe von fünf Menschen entgegen, von denen einer weinte und schrie. Es waren, von zwei Pflegern begleitete Behinderte, die in der hiesigen Werkstatt arbeiteten. Natürlich haben Menschen mit schweren und Mehrfachbehinderungen die Angewohnheit, manchmal aus scheinbar nicht nachvollziehbaren Gründen plötzlich zu schreien. Auch die Pfleger schienen es normal zu finden, denn sie kümmerten sich nicht weiter darum, sondern führten die Leute einfach weiter. Aber meine Mutter und ich waren schockiert und wir waren nicht die Einzigen.
‚Geschmacklos‘, hatten verschiedene Pirnaer Bürger und Historiker den Entschluss bezeichnet, in der Gedenkstätte der ehemaligen Anstalt nun auch die hiesige Behindertenwerkstatt unterzubringen. Bereits in der DDR vorhanden, hatten die dortigen Beschäftigten Zuarbeiten für die Stahlbetriebe auf dem ehemaligen Gelände geleistet. Nach der Wiedervereinigung hatte sich ein Münchener Investor für die Gebäude auf dem Sonnenstein interessiert und die Stadt, wie viele andere in der DDR finanziell ausgelaugt, hatte diese Investitionen benötigt.
„Da ist so ein Unternehmen aus Bayern, verschiedene reiche Leute haben da ihr Geld reingebracht und praktisch als Betrieb sich hier eingekauft. „Communitas München“ nennt sich das. Das Schloss wollen sie zum Luxushotel umbauen [4]. Und dieses Hotel und die Behinderten, nein, das passt nicht zusammen“, teilte der Pirnaer Bürger, der dem Reporterteam bereits über seine Erfahrungen mit dem Sonnenstein im Dritten Reich berichtet hatte, mit. [5] Auch der Leiter der Behindertenwerkstatt hatte sich offen für einen Umzug gezeigt, um mehr Räumlichkeiten zur Verfügung zu haben, als es das Gebäude, das sich die Werkstatt mit einer Förderschule teilte, bot [6]. Aber warum hatte es ausgerechnet dieses Gebäude sein müssen? Auch externe Behindertenbetreuer hatten dagegen protestiert. Es sei wahnsinnig, an einen so belasteten Ort zu gehen. Das sahen diejenigen, deren Vorstellungen sich letztlich durchsetzen, jedoch anders. Sie wollten die Behinderten nicht ausgegrenzt sehen[7]. Weder aus der Arbeitswelt noch aus dem offenen Umgang mit der Vergangenheit. Gedenkstättenleiter Boris Böhm hingegen war die eigentliche Unvereinbarkeit der Anforderungen einer Gedenkstätte und denen einer Behindertenwerkstatt sehr bewusst. Es bedeutete vor allem, dass Besucher und Behinderte einander nicht ausweichen, sondern sich ständig begegnen würden, wie auch wir es erlebt hatten. Es mag selbstsüchtig von mir klingen, aber versucht mal, euch auf die Tonspur eines sehr alten Zeitzeugengesprächs zu konzentrieren, wenn im Nebenraum jemand permanent laut spricht oder schreit. Dass ich den Sonnenstein mit bohrenden Kopfschmerzen verließ, lag wahrscheinlich nicht mal an der belasteten Vergangenheit dieses Ortes. Auch ist die Einbeziehung der Behinderten, eher mit der Aktion T4 zu erklären und nicht mit der unmittelbaren Präsenz dieser Menschen auf dem Sonnenstein in der Vergangenheit. Denn der Sonnenstein war eine Anstalt für psychisch Kranke gewesen, die als heilbar galten, und demnach nicht dauerhaft auf dem Sonnenstein bleiben sollten. Aber auch behinderte Menschen hatte man vor dem Nationalsozialismus in Deutschland nicht dauerhaft in Abschottung von Nichtbehinderten gehalten. In der voneinander getrennten Doppelanstalt Chemnitz-Altendorf, für sehbehinderte Kinder und Jugendliche und stark lernbehinderte Kinder wurden diese mit der Absicht aufgenommen, sie "durch Erziehung und Unterricht so weit zu fördern, dass sie nach ihrer Entlassung im Stande sind, sich selbst durchs Leben zu finden."[8] Neben Schul- und Berufsausbildung für die Sehbehinderten befanden sich hier Ausbildungswerkstätten für Korb- und Bürstenmacher, Klavierstimmer, Telefonisten, eine Industrie- und Schreibmaschinenwerkstatt. Zwischen 1915 und 1922 beherbergte die Anstalt zusätzlich auch ein Lazarett für Kriegserblindete. Die Kinder mit schweren Lernbehinderungen erhielten Unterricht im Lesen, Schreiben, Rechnen und in christlicher Religion. Eine große Rolle spielten Sport, besonders Turnen als körperliche Ertüchtigung, und musikalische Bildung. Bei allen Kindern wurden die handwerklichen Fähigkeiten gefördert, die Mädchen erhielten zusätzlich auch eine hauswirtschaftliche Ausbildung. Die Zöglinge wohnten während der gesamten Schul- und Ausbildungszeit in der Anstalt. Anschließend erfolgte die Vermittlung in Arbeitsstellen in der Landwirtschaft, Gärtnereien und Fabriken. Zwar betonte auch die Idee dieser Doppelanstalt die Bedeutung des „auf Nächstenliebe gerichteten Zeitgeistes“ und der Hilfe bei Leiden und Not, das Konzept der Inklusion setzte jedoch vor allem auf die Förderung der Fähigkeiten der behinderten Kinder und Jugendlichen, diese bis zu einem gewissen Grad irgendwann selbst in die Hand nehmen zu können.
Was sucht ihr, die Lebenden, bei den Toten?
Nachdem ich letztlich mit permanent in die Ohren gedrückten Fingern - denn meine Ohrstöpsel hatten sich als viel zu lautdurchlässig erwiesen - die Zeitzeugengespräche angehört und die Ausstellung mit allen Texttafeln abgeschritten war, kam der Abstieg hinab in den Keller, wo sich die Gaskammer und das Krematorium befunden hatten. Dort befanden sich nur noch einzelne Spuren des Mordprozesses, denn nach dem Abbruch der Aktion T4 hatte man Gaskammer und Krematorium zurückgebaut. Erhalten geblieben war der Fußboden, Reste des schwarzen Maueranstrichs, um den Raum anschließend besser desinfizieren zu können. Die Falze in der Mauer zur Befestigung der Tür mit dem Beobachtungsfenster und die Löcher für die Gaszuleitungen. Die durch alle Räume führende Rinne zur Ableitung von Erbrochenem und Exkrementen. Die Winkeleisen, an denen eines der beiden Krematorien im Boden verankert war. Das Fundament für den Schornstein. Ich blieb vor der Tür stehen und betrachtete den leeren Raum. An der gegenüberliegenden Wand befand sich wie zur Verhöhnung ein kleines, nicht zu öffnendes Fenster, das den Opfern den Blick auf den Elbhang ermöglichte. Nicht wenige Behinderte schienen damals übrigens, trotz der Unfähigkeit sich verständlich normal zu artikulieren, gewusst zu haben, an welchen Ort sie gebracht worden waren.[9] Immer wieder mussten Beruhigungsspritzen verabreicht werden. Ihr letzter Weg führte, von Pflegern und Ärzten begleitet, in die als Duschraum getarnte Gaskammer. Ich kam nicht umhin, den Raum ungläubig anzusehen. Er war so klein, dass, wenn man dort, wie berichtet, jeweils mindestens dreißig Leute hineingepfercht hätte,[10] niemand auch nur den Arm hätte heben können, ohne seinem Nachbarn den Ellenbogen ins Auge zu rammen. Spätestens dann wäre die Tarnung vom Duschraum aufgeflogen. Niemand hätte sich so waschen können. Um die Annahme aufrechtzuerhalten, dass die Ankommenden lediglich in eine andere Anstalt verlegt worden wären, erhielten sie mitunter sogar noch eine Mahlzeit [11]. Da die Opfer während der Erstickungskrämpfe diese in jedem Fall wieder erbrachen, kam ich nicht umhin, mich zu wundern, wie jemand, der die Opfer als ‚nutzlose Esser‘ bezeichnet hatte, auf so etwas kommen konnte. Es herrschte doch angeblich Lebensmittelknappheit. Als ich schließlich hineinging, setzte ein äußerst beunruhigendes Empfinden ein. Ich fühlte ein seltsames Vibrieren in der Luft, fast als würde man das Schütteln der Opfer während der Erstickungskrämpfe noch dort spüren. Es gelang mir auch mit der Lesegeschwindigkeit eines Autisten nicht, lange genug im Raum zu bleiben, um auch nur eine der Tafeln lesen zu können. Das Vibrieren fühlte sich unerträglich an. Ich lief immer wieder nach draußen in den Flur und wartete einen Moment, um es erneut zu versuchen: Immer mit dem gleichen Ergebnis. Ich überlegte, ob die kopfschmerzauslösende Kulisse der Gedenkstätte und ein zu stark abgesunkener Insulinspiegel vielleicht die Schuld daran trügen, doch als ich schließlich von der Gaskammer weiter in den angrenzenden Leichenraum ging, hörte das Gefühl schlagartig auf. Hier herrschte nur noch eine eisige Ruhe. Ich blickte über die Schulter: Das Empfinden beschränkte sich wirklich allein auf diesen Raum.
„Wie haben das die Arbeiter ausgehalten, als hier während der DDR die Stahlbetriebe waren?“, fragte ich meine Mutter.
„Vielleicht dachten sie, es käme von den Maschinen“, vermutete sie.
‚Autisten haben eine andere Wahrnehmung‘, hatte eine Ärztin erwidert, der ich dieses Erlebnis später beschrieb. Aber tatsächlich hatten auch die Arbeiter in dem DDR-Betrieb ihre Schwierigkeiten mit diesem Ort gehabt. Arbeiterinnen, die in den fünfziger Jahren in dem Keller beschäftigt waren, verweigerten schließlich ihren Dienst. Die zuständigen Organe streuten daraufhin eine Lüge, um ihr Unbehagen als unzutreffend abzustempeln, dass man nach dem Rückbau gar nicht mehr wisse, wo die Gaskammer und das Krematorium sich befunden hätten.[12] Die Drecksäcke …
Als wir schließlich erschöpft draußen auf einer Bank in einem abgelegenen Park gelandet waren, ging bereits die Sonne unter und auf dem Sonnenstein dämmerte der Abend. Meine Mutter überredete mich aufgrund meiner Verfassung zu einem Stück Kuchen und einem Becher Tee, die sie vorsorgend mitgenommen hatte. Hinterher war ich mir sicher, dass das Gefühl in der ehemaligen Gaskammer nicht mit einem Insulinabfall zu tun gehabt haben konnte. Aber was sollte ich nun mitnehmen von diesem Ort, an den zu gehen ich mich selbst entschlossen hatte? Man spricht im Bezug auf Gedenkstätten oft vom Zweck des ‚historischen Lernens‘. Auch als Historikerin muss ich jedoch zugeben, wie schwierig dieses Ziel umzusetzen ist, da Geschichte immer ein Zusammentreffen von zufälligen Ausgangssituationen und Entwicklungen ist, in dieser Form nicht noch einmal zusammentreffen werden. Auch hilft uns die Vergangenheit nicht immer, ähnlich anmutende Ereignisse in der Gegenwart zu verstehen. Das einzugehen bedeutet nicht, zu behaupten, es sei nicht möglich aus der Geschichte zu lernen: Das ist es, und es ist wichtiger denn je, wobei mir keine vergangene Zeit einfällt, da es nicht wichtig war. Um aus der Geschichte scheinbar allgemeingültige Lehren abzuleiten, muss man sie jedoch völlig entkontextualisieren. Genau dadurch wird es aber sinnlos, aus der Geschichte lernen zu wollen, denn die Geschichte wird ja erst durch ihren historischen Kontext überhaupt zur Geschichte und ohne diesen sind die unter ihr versammelten Vorgänge nicht zu verstehen. Das Entkoppeln der Vergangenheit entsteht heutzutage sehr häufig durch die Verwendung in politisch motivierten Kontexten. Das vielbeschworene ‚Nie wieder‘ erscheint dann nicht mehr als Mahnung,[13] sondern als resignierend empfundenes ‚Und wenn, dann zumindest nicht genauso‘. Der österreichische Historiker Florian Wenninger erklärt dieses Verhalten mit dem Bedürfnis nach moralischer Selbstaufwertung, das nicht dem Verstehen der Vergangenheit dient, sondern der Adelung eigener Handlungen in der Gegenwart[14]. Die Wirkungsweise von totalitären Regimen auf den persönlichen Mut zum Aufstehen herunterzubrechen, verknüpft mit der Forderung nach der persönlichen Zivilcourage des Einzelnen hält er für eine unzulässige Verkürzung. Dass sich eine solche Monstrosität wie der Nationalsozialismus dadurch hätte verhindern lassen, wird nicht von der etablierten Geschichtsforschung behauptet. Auch ist, wissenschaftliche Definitionen vorzugeben, nicht die Aufgabe von Politikern. Viele Menschen sind mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten gegen Hitler ‚aufgestanden‘ und das lange bevor die Vernichtungspolitik der Nazis mit dem Zweiten Weltkrieg anrollte. [15] Bereits als sie den Umgang der Nazis mit dem politischen Gegner - den Kommunisten sahen - standen nicht wenig Deutsche auf, obgleich die Mehrheit von ihnen keine Sympathien für den Kommunismus und dessen Partei bei den Wahlen auch nicht ihre Stimme gegeben hatte. In ihnen bestand jedoch die Vermutung, dass, wenn man einmal diesen Umgang mit einer Bevölkerungsgruppe zugelassen hatte, es nicht bei dieser einen Gruppe bleiben würde. Und zu der nächsten könnte man vielleicht selbst dazugehören. Genau davor hatte auch Bischof von Galen in seinen Predigten zu den Kranken- und Behindertenmorden eindringlich gewarnt.
Auch die heute so oft als Werte im Munde geführten Schlagwörter von Diversität und Vielfalt gehören meiner Ansicht nach in den Kontext der Entkontextualisierung. Der Vernichtungskrieg der Nazis war kein Krieg gegen Diversität und Diversität als solche ist kein als Ziel zu proklamierender Zustand, sondern etwas Natürliches, da wir von Natur aus verschieden sind. Wie sehr sich Diversität und Vielfalt zum Positiven für eine Gesellschaft auswirken, ist jedoch von einer zahlreichen Anzahl anderer Faktoren abhängig. Dass der Umgang mit der Vergangenheit anhand dieser Begriffe pädagogisch genutzt wird, um die Anerkennung von Verschiedenheit zu lehren, mag ein löbliches Ansinnen sein, ich halte es jedoch für sehr problematisch es so stark an den Nationalsozialismus als Begründung zu knüpfen. Denn Deutschland besaß bereits vor dem Nationalsozialismus verschiedenenorts eine positive gesellschaftliche Kultur im Umgang mit Behinderten und psychisch Kranken. Es hätte nicht den Nationalsozialismus gebraucht, um den Deutschen beizubringen: Sowas macht man doch nicht! Um aus der Geschichte lernen zu können, halte ich es für wichtig zu vermitteln, wie die Nationalsozialisten es schafften, dass die vorherigen Errungenschaften und die Gesetzte, die diese absicherten, zur Makulatur wurden. Dass diese Vorgänge nach dem Krieg so lange nicht aufgearbeitet wurden, halte ich nicht mehrheitlich mit ‚tief verwurzelten Vorurteilen‘ gegenüber Behinderten und psychisch Kranken begründet, auch wenn es diese erwiesenermaßen gab und sie auch in Diskussionen, z.B. zum Umgang mit den unter dem NS-Regime Sterilisierten, immer wieder offenbar wurden. In den chaotischen Zuständen der Endphase des Zweiten Weltkriegs hatten viele die Spuren ihrer Angehörigen verloren, Unterlagen waren oft systematisch vernichtet worden und für viele Deutsche aus den ehemaligen Ostgebieten wurden sie von den Erfahrungen von Flucht, Vertreibung und Heimatsverlust überlagert. Dieser, fast 12 Millionen Deutsche umfassende, Bevölkerungstransfer dauerte bis 1949 an und stellte sowohl die neugegründete Bundesrepublik als auch die entstehende DDR, die verhältnismäßig gesehen, den größten Teil von ihnen aufnahm, vor gewaltige soziale und ökonomische Herausforderungen. Das Land lag in Trümmern und durch den Bombenkrieg waren viele deutsche Städte zerstört, weshalb auch viele Deutsche, die nicht vertrieben worden waren, ohne Obdach waren. Zudem herrschten - wieder einmal - Hungersnöte. Dennoch war vielen Angehörigen das Schicksal ihrer verschwundenen Verwandten nicht gleichgültig. Ihre Anfragen bei Suchdiensten des Roten Kreuzes wurden jedoch nicht beantwortet. Auch waren viele Akten über die Vorgänge vernichtet worden oder unter Verschluss. Eine umfassende Erforschung setzte erst mit der Freigabe nach der Friedlichen Revolution und dem Ende des Ost-West-Konflikts ein.[17]
Was also mitnehmen von diesem Besuch? Wahrscheinlich hatte ich mich auf diesen Weg mit einer ähnlichen Frage gemacht, wie sie Maria gestellt wurde, als sie zusammen mit anderen Frauen das Grab ihres Sohnes Jesu aufsuchte: Was sucht ihr, die Lebenden, bei den Toten? Im Falle von Pirna-Sonnenstein ist dies gar nicht so unpassend, da in den örtlichen Sagen die Wege der Toten durch diesen Ort führten. Ich ging mit der Erkenntnis, dass wir mit den Toten, sowohl mit den Tätern als auch den Opfern, verbunden sind - durch die vielfältigen Wege, die Lebende auf den Sonnenstein führten, und durch jedes Leben, das hier ausgelöscht wurde.
[1] Gerhart Zeller, Von der Heilanstalt zur Heil- und Pflegeanstalt, Fortschritte Neurologie 49 (1981), S.121-127.
[2] Vgl. Ernst Eichler, Slawische Ortsnamen zwischen Saale und Neiße, Bautzen 1993.
[3] Kalenderblatt der Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein: 1. September 1989: Beginn der Aufarbeitung der NS-"Euthanasie"-Verbrechen in Pirna.
[4] Schloss Sonnenstein wird Luxushotel von Immobilien Zeitung aus Ausgabe IZ 13/2001, S.22.
[5] Detlef Krell, Einmal im Jahr ein Gebinde?
In der „Heil- und Pflegeanstalt Pirna-Sonnenstein“ brachten die Nazis etwa 15.000 Behinderte um. Was jetzt aus dem Gelände werden soll, ist umstritten, in taz vom 07.01.1997.
[6] Detlef Krell, Immobilie mit Gaskammer. Auf dem „Sonnenstein“ von Pirna war eine der Mordstätten des nazistischen „Euthanasieprogrammes“ Eine Gedenkstätte soll dort entstehen/ Investoren wollen Büros einrichten, in taz vom 24.11.1992.
[7] Krell, Einmal im Jahr ein Gebinde?
[8] Flemmings Blindenschule in Chemnitz und die Euthanasie.
[10] Boris Böhm, Die Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein und die Ermordung ostpreußischer Patienten, in: Ders. (Hrsg.), „Wird heute nach einer Landes-Heil- und Pflegeanstalt in Sachsen überführt.“ Die Ermordung ostpreußischer Patienten in der nationalsozialistischen Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein im Jahre 1941, Leipzig 2015, S. 75-94, hier S.
[11] Boris Böhm, Die Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein und die Ermordung ostpreußischer Patienten, in: Ders. (Hrsg.), „Wird heute nach einer Landes-Heil- und Pflegeanstalt in Sachsen überführt.“ Die Ermordung ostpreußischer Patienten in der nationalsozialistischen Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein im Jahre 1941, Leipzig 2015, S. 75-94, hier S. 87.
[12]Krell, Einmal im Jahr ein Gebinde?
[13] Sigrid Jacobeit, KZ-Gedenkstätten als nationale Erinnerungsorte. Zwischen Ritualisierung und Musealisierung.
[14] Florian Wenninger, Die Ritualisierung des Gedenkens.
[15] Der auf die NS-Zeit spezialisierte Historiker Michael Wildt sagte dies in seinem Vortrag über die Machtergreifung der Nazis im Dokumentationszentrum ‚Topografie des Terrors‘.
[16] Boris Böhm/ Hagen Markwardt, Der schwierige Weg des Erinnerns. Zum Umgang mit den Krankenmorden von den Nachkriegsjahren bis in die Gegenwart, In: Boris Böhm (Hrsg.), „Wird heute nach einer Landes-Heil- und Pflegeanstalt in Sachsen überführt.“ Die Ermordung ostpreußischer Patienten in der nationalsozialistischen Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein im Jahre 1941, Leipzig 2015, S. 155-164.
Kommentar schreiben