Etwa ein halbes Jahr nachdem ich meine Autismusdiagnose erhalten hatte, beschloss ich, die Gedenkstätte der ehemaligen Euthanasie-Anstalt in Pirna-Sonnenstein zu besuchen. Ich hatte schon während meiner gestalterischen Ausbildung zu diesem Thema gelesen und nun, da ich bereits im Master Geschichte studierte, hielt ich den Zeitpunkt, meinem früheren Interesse an dieser Thematik nachzugeben, für gekommen. Außerdem galt ich nun offiziell selbst als „behindert“ und hatte mich auch bereits dazu durchgerungen, mich bei der Beauftragten für behinderte und chronisch kranke Studenten vorzustellen. Als sie mich fragte, wie der Umgang mit behinderten Studenten an meiner alten Universität gewesen war, konnte ich nur antworten, dass ich meine Diagnose erst vor kurzem erhalten hatte. Als ich erzählte, dass ich nicht nur meinen Bachelorabschluss, sondern auch meinen Schulabschluss und eine Ausbildung hinter mich gebracht hatte, ohne dass jemand Rücksicht auf meinen Autismus genommen hatte, wanderten ihre Augenbrauen sichtbar in Richtung Haaransatz.
‚Respekt“, erwiderte sie schließlich gepresst. Ich gestattete mir ein Lächeln, denn Respekt ist ein weitaus besserer Weg, einen behinderten Menschen für sich einzunehmen, als Mitleid.
‚Sie müssen wissen, dass sich Autisten erst seit kurzem an den Universitäten als solche zu erkennen geben‘ sagte sie. ‚Rechnen Sie also mit viel Unwissenheit bei den Professoren zu diesem Thema.‘ Das stimmte tatsächlich, aber ich hatte an meiner alten Universität ebenso die Erfahrung gemacht, dass Menschen auch ohne dieses Wissen sehr hilfsbereit sein konnten. Wenn ich um eine Verlängerung für die Arbeitszeit an einer Hausarbeit bat, weil mein permanenter Stresskopfschmerz mich tagelang beim Arbeiten ausbremste und auch die Schmerzmittel nicht mehr halfen, erfuhr ich nie Ablehnung. Meine Reise als behinderte Studentin in die Gedenkstätte der ehemaligen Tötungsanstalt auf dem Sonnenstein nahm also Gestalt an.
Aber sind Autisten als solche denn überhaupt per se „behindert“?
Eine Frage, die in diesem Zusammenhang oft auftaucht, und um die wir auch hier nicht herumkommen werden, müssen wir im Vorfeld beantworten: Kann man Autisten selbst denn tatsächlich prinzipiell als behindert bezeichnen? Meiner Ansicht nach: Ja. Denn als Behinderung gilt eine medizinische Diagnose, deren Befund in Wechselwirkung mit sozialen Faktoren zu erheblichen Hindernissen bei der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben führt, die zu überwinden aber die Behinderung selbst massiv erschwert. Dies ist bei Autisten eindeutig der Fall - auch bei Autisten, die normal oder sogar überdurchschnittlich intelligent sind, eine Ausbildung oder ein Studium bewältigt haben, einen Beruf ausüben und ein soziales Umfeld pflegen können. Durch die autistische Form der Informationsverarbeitung, Wahrnehmung, Kommunikation, und Situationshandhabung, [1] ist ein Autist im Alltag immer wieder mit Hindernissen konfrontiert, die für Nicht-Autisten nicht existieren. Als heute bekanntes Kardinalproblem der Autisten in der Gesellschaft gilt die Reizüberflutung, dies ist aber nur bedingt das wirkliche Problem. Autisten verarbeiten mehr Informationen und mehr Details, dies ist so weit zutreffend. Das Problem entsteht aber durch die Nichtpassung mit der Informationsverarbeitung der Nicht-Autisten, die sehr stark durch vorwegnehmende Automatismen und Schemata operiert. Ein Autist hingegen verarbeitet Informationen fast durchgehend bewusst und nimmt Kontextualisierungen, Beurteilungen eines Reizes etc. erst in der Situation selbst vor und nimmt sie nicht im Voraus vorweg. Dies erfordert einen höheren Aufwand im Gehirn, deutlich mehr Zeit und deutlich mehr Energie. Ein Autist hat höhere Kapazitäten für die Informationsverarbeitung als ein Nicht-Autist, aber nicht genug, um das Ausmaß zu handhaben, dass die schnellere unbewusste Situationsverarbeitung der Nicht-Autisten ermöglicht. Und die zusätzliche Zeit, die er benötigen würde, bekommt er meist auch nicht. Denn gesellschaftliche Erwartungshaltungen sind an die Geschwindigkeit der Nicht-Autisten angepasst und diese müssen auch Autisten bedienen können, um Teil der Gesellschaft zu sein. Daraus entsteht ein permanenter Stresskreislauf, der durch Reizreduzierung allein nicht zu stoppen ist und für Autisten auch keine Lösung darstellt. Denn es wird nie Gesellschaft geben, die zu den Bedingungen der Autisten funktioniert. Dazu sind Autisten einfach zu selten. Dennoch möchte kein Autist dauerhaft allein und isoliert von allen Reizen sein, denn dauerhafter Reizentzug stellt nicht grundlos eine Form von Folter dar. Ein solches Leben wäre für Autisten eine Katastrophe und für die jeweiligen Gesellschaften wäre es ein Verlust. Denn Autisten besitzen eine unheimlich große Kapazität an Wahrnehmung und ein entsprechend umfassendes Potential an Informationsauswertung und -analyse, dass in der Zusammenarbeit mit Nicht-Autisten sehr bereichernd sein kann. Auch sind die automatisierten kognitiven Adaptionen der Mehrheitsbevölkerung nicht in jedem Fall auch hilfreich. Sie sind die Überbleibsel von etwas, das vor Jahrhunderttausenden das Überleben sicherte, heute aber diese Funktion nicht mehr so erfüllt. So ist die schnelle Reaktionsgeschwindigkeit der Nicht-Autisten auch durch die Aktivierung binärer Freund-Feind-, Gut-Böse-, Schwarz-Weiß-Muster bedingt und damit auch das Ergebnis der Reduzierung komplexerer Zusammenhänge. Dies kann sogar so weit führen, dass Informationen, die nicht mit den vorgefassten Modellen übereinstimmen schlichtweg ignoriert werden. Man spricht von sog. „Cognitive Biases“, von kognitiven Verzerrungen, die insbesondere, wenn es um Ausgrenzung und Abwertung geht, sehr schnell aktiviert sind. Und das ist nur logisch, denn Vorurteile sind das Ergebnis der Prädikation, der Vorwegnahme. Für diese ist ein Autist aufgrund seiner veränderten Informationsverarbeitung weniger anfällig, wenn auch nicht völlig gefeit - mit allen Vor- und Nachteilen . Die meisten Nicht-Autisten nehmen diese automatisierten Modelle aber nicht als ebenso mit Vor- und Nachteilen behaftet wahr, da sie ihnen vermitteln, dass die Mehrheit der Menschen wie sie denkt, was ihnen eine gewisse Bestätigung und Geborgenheit vermittelt und es ihnen erleichtert, Resonanz mit ihrem Umfeld zu erzeugen. Das Ganze kultiviert zwar auch eine gewisse Form geistiger Trägheit, aber es bietet eine Schutzfunktion, die ein Autist nicht besitzt. Er kann sich nicht darin geborgen fühlen, dass er ist wie alle anderen. Auch Nicht-Autisten wissen, dass sich die Mehrheit schon oft geirrt hat, und wir würden kein so exponiertes Schlagwort wie den Nationalsozialismus benötigen, um daran zu erinnern, aber er gehört nun mal zum Thema unseres Artikels. Und es wird sich noch zeigen, dass es sich bei dieser Aussage selbst für diesen um die Reduzierung eines komplexeren Zusammenhangs handelt. Dennoch darf man die Wirkung solcher Gemeinschaftszugehörigkeiten nicht unterschätzen, nicht nur im Fall von „Cognitive Biases“ oder „Cognitive Bubbles“. Denn sie bedienen ein menschliches Bedürfnis nach Sicherheit und Geborgenheit und eben Teilhabe - also eine auf Hilfe und Antworten stoßende Beziehung zum eigenen Umfeld, das auch Autisten besitzen. Sie haben aufgrund der geschilderten Besonderheiten jedoch einen deutlich höheren Aufwand dabei, dieses auch abzusichern und landen durch den Stresskreislauf, den ihre veränderte Informationsverarbeitung zur Folge hat und dem sie jeden Tag ausgesetzt sind, fast täglich in schweren Erschöpfungszuständen. Und wenn dies dauerhaft der Fall ist, resultiert daraus der vielfach dokumentierte Befund, dass die Betreffenden psychische Erkrankungen entwickeln, so z.B. oft schwere Depressionen. In der deutschsprachigen Wikipedia wird Autismus u.a. noch immer in der Kategorie ‚Psychische Störung‘ geführt. Autismus ist aber weder eine psychische Störung noch eine Erkrankung. Autisten können dergleichen jedoch als sog. Begleiterkrankung entwickeln. Das würde aber ein Nicht-Autist, der unter derselben permanenten Überforderung funktionieren muss, auch.
Aber lassen sich intelligente Autisten in die Gruppe der Behinderten einreihen, die Opfer der nationalsozialistischen Krankenmorde wurden?
Ein häufiges Argument, das auch mich oft von Behörden erreicht, ist, dass Autisten, die intelligent genug sind, um zu studieren, nicht die Hilfen benötigen würden, die Menschen erhalten, die im Gegensatz zu ihnen „wirklich behindert“ sind. Auch unter meinen Kommilitonen aus dem Historischen Seminar waren einige mit der Ansicht, dass sich „solche Leute keine Opferidentität konstruieren sollten“ und ich glaube, sie haben auch etwas von „Privilegien“ hinzugefügt - und damit die gleiche Sparte bedient wie die Behörden, ohne zu wissen, dass „solche Leute“ mit ihnen im selben Raum saßen. Meiner Ansicht nach sind das ziemlich seltsamen Gedanken, denn die nach dem Krieg Geborenen sind in Bezug auf die Nationalsozialisten schon aus rein chronologischen Gründen weder Opfer noch Täter. Uns gehen diese Dinge durch Geschichte und Identität etwas an, doch natürlich berühren die Behindertenmorde der Nationalsozialisten auch die Identität heutiger behinderter Menschen. Aber auch die persönliche Identität vieler Nichtbehinderter gehen die Vorgänge in den Euthanasieanstalten etwas an, wenn ihre eigenen Vorfahren dort umkamen. So z.B. die aus Ostpreußen stammende Urgroßmutter der Historikerin Birte Laura Winkler, die den Anstoß zu einem entsprechenden Forschungsprojekt in der Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein gab[2]. Allgemein betreffend ist jedoch die Tatsache, dass das Denken der Nationalsozialisten über sog. „Ballastexistenzen“ nicht bei behinderten Menschen aufhörte, sondern jeden ereilte, der unbrauchbar wurde. In den Gaskammern der Euthanasieanstalten starben ebenso Wehrmachtssoldaten, die, erschüttert und zerstört von dem Grauen der Kriegsfront, als kampfunfähig aus dem Militärdienst entlassen werden mussten. Aus Hitlers Armeen wurden sie nicht nach Hause, sondern in den Tod entlassen[3], obgleich die Deutschen doch, aufgrund ihrer „arischen Abstammung“, angeblich Hitlers „auserwähltes Volk“ gewesen waren. Dem war aber weniger so wegen seinem rassischen Denken, sondern eher, weil sein eingeborener Machtinstinkt „wie eine Magnetnadel auf sie gedeutet hatte. Und nur als Machtinstrument haben sie ihn wirklich interessiert. Hitler hatte großen Ehrgeiz für Deutschland und darin traf er sich mit den Deutschen seiner Generation; die Deutschen waren damals ein ehrgeiziges Volk - ehrgeizig und zugleich politisch ratlos nach dem Scheitern der Weimarer Republik. Beides zusammen gab Hitler damals seine Chance. Aber der Ehrgeiz der Deutschen und Hitlers Ehrgeiz für Deutschland waren nicht deckungsgleich. „Und Hitler fehlte das Ohr für feine Unterschiede. Einmal an der Macht hörte er jedenfalls nicht mehr hin.“[4] Dennoch mündete das Nutzbarkeitsdenken der Nationalsozialisten, trotz „Rassenhygiene“ und eugenischem Gedankengut, erst mit den kriegswirtschaftlichen Erwägungen zu Beginn des Zweiten Weltkriegs in den organisierten Massenmord an Behinderten und psychisch Kranken. Hitler benötigte die Heilanstalten als Lazarette und wollte die Kosten für Pflege und Unterbringung sparen und durch die „Beseitigung von nutzlosen Essern“ der, im Dritten Reich immer wieder auftretenden, Lebensmittelknappheit entgegenwirken. Im Ersten Weltkrieg hatte die starke Abhängigkeit Deutschlands von Rohstoff- und Nahrungsmittelimporten zur Errichtung einer Seeblockade durch die Briten geführt, die 1917 noch von den USA verstärkt wurde. Das Resultat war eine massive Unterversorgung mit Nahrungs- und Lebensmitteln, die fast 900 000 Hungertote in der Zivilbevölkerung zur Folge hatte. Der Erste Weltkrieg ist den meisten Deutschen, die ihn erlebt haben, aufgrund dessen als „Hungerkrieg“ in Erinnerung geblieben und nicht nur nach heutigem, sondern auch nach damaligen Recht, war die Blockade ein klarer Völkerrechtsbruch[5]. Das Konzept der Nazis vom „Lebensraum im Osten“ rekurrierte auch darauf, Deutschland durch die Eroberung anderer Länder den Zugang zu Rohstoffen und den Nahrungsmitteln, die immer noch importiert werden mussten, zu sichern und es ökonomisch unabhängig zu machen. Ihr Vorgehen war letztlich nicht ausschließlich durch rassisches und eugenisches Gedankengut bestimmt, sondern ebenso von ökonomischen Überlegungen geleitet. Die Stiftung der sächsischen Gedenkstätten gab deshalb dem 1999 erschienenem Band über die den Massenmord an Kranken und Behinderten den treffenden Titel: Unmenschliches Ermessen[6]. Die Philosophin Simone Weil (1909-1943) schrieb in ihrem Hauptwerk dazu: „Das Böse, wenn wir in seiner Macht sind, erscheint uns nicht als das Böse, sondern als das Notwendige und sogar als Pflicht.“[7] Auch Goebbels hatte die Krankenmorde in seinen Tagebüchern als „notwendige Arbeit“ bezeichnet [8].
Dennoch vertraute Hitler bei den Euthanasiemorden nicht auf die Zustimmung der Bevölkerung, weshalb die Aktion T4 unter Geheimhaltung verlaufen sollte, was jedoch nicht gelang. Auch in den Städten, wo nicht, wie in Pirna aufgrund eines Konstruktionsfehlers, meterhohe Flammen aus dem Krematoriumsschlot loderten, wurde der Verbrennungsgestank über die Dächer getrieben.
„Ich war vierzehn, fünfzehn Jahre erst -, die Eltern haben so etwas geahnt, man hat viel gemunkelt damals, und der Rauch von den armen verbrannten Menschen war ja auch überall von der Stadt aus zu sehen. Aber letzten Endes, so richtig vorstellbar war es dennoch nicht.“ [9] Auch der, unter den Angehörigen der Opfer, unter Pflegern und Anstaltsleitern, aber vor allem der innerhalb der Kirchen formierte Widerstand brauchte eine Zeitlang den „an Sicherheit grenzende[n] Verdacht, dass man dabei jener Lehre folgt, die behauptet, man dürfe sogenanntes ‚lebensunwertes Leben‘ vernichten“[10] als Tatsache zu begreifen. Einer der bekanntesten Vertreter des kirchlichen Widerstands gegen die Krankenmorde, Bischof Clemens August Graf von Galen, geißelte diese Lehre in seinen Predigten mit den Worten:
„Selbst wenn es jetzt nur wehrlose Geisteskranke trifft, dann ist grundsätzlich der Mord an allen unproduktiven Menschen, also an den unheilbar Kranken, den arbeitsunfähigen Krüppeln, den Invaliden der Arbeit und des Krieges, dann ist der Mord an uns allen, wenn wir alt und damit unproduktiv werden, freigegeben. Dann braucht nur irgendein Geheimerlass anzuordnen, das bei den Geisteskranken erprobte Verfahren auf andere Unproduktive auszudehnen, auch bei den unheilbar Lungenkranken, bei den Altersschwachen, bei den Arbeitsinvaliden, bei den schwer kriegsverletzten Soldaten […] Dann ist keiner von uns seines Lebens mehr sicher.“[11] Tatsächlich hatte Hitler vorgehabt, dieses Verfahren auf Lungenkranke und weitere Teile der Deutschen auszuweiten, dies jedoch vorerst hinter das Kriegsende vertagt. Denn Bischof von Galen trug mit seinen Predigten erheblich dazu bei, das Wissen über die tatsächlichen Vorgänge in den Euthanasieanstalten in der Bevölkerung zu verbreiten. Der Verlust der Geheimhaltung und die daraus resultierende Unruhe in einer Phase, in der Hitler die Ausweitung des Krieges forcierte, führte dazu, dass er die Aktion T4 stoppte. Für die Nachwelt haben vor allem die Gaskammern der nationalistischen Vernichtungspolitik ihr grauenerregendes Gesicht gegeben. Die Mehrheit der Euthanasieopfer starb jedoch nicht dort, sondern später während der dezentralisierten Fortsetzung der Aktion T4, der sog. wilden Euthanasie, durch Verhungern, Misshandlung und Vergiften mit überdosierten Medikamenten.
Das Personal von Pirna-Sonnenstein setzte seine tödliche Arbeit jedoch - genau wie das der anderen Euthanasieanstalten - später fort. Ein Jahr hielten sie sich nach dem offiziellen Stopp der Aktion T4 noch auf dem Sonnenstein auf, dann machten sie sich auf den Weg in die Vernichtungslager der Aktion Reinhardt - Treblinka, Sobibor und Belzec - nachdem sie zuvor ihre Spuren dort verwischt und die Gaskammer und das Krematorium abgebaut hatten.[12] Obgleich im kollektiven Gedächtnis Auschwitz als Synonym für den nationalsozialistischen Völkermord an den europäischen Juden gilt, waren die drei Lager der Aktion Reinhardt der eigentliche Kern des Holocaust[13] - reine Vernichtungsstätten, die so gut wie keine Überlebenden kannten. Der Leiter der Gedenkstätte von Pirna-Sonnenstein, Boris Böhm, traf jedoch Jahrzehnte später einen von ihnen - Thomas „Toivi“ Blatt, der am Aufstand im Vernichtungslager Sobibor beteiligt war und als einer der wenigen Häftlinge die anschließende Flucht und Besatzungszeit überlebte.
Haben Sie Hass auf die Deutschen?, fragte er ihn, während er in einem Pirnaer Gymnasium über seine Erlebnisse sprach.
Nein, antwortete er. Aber auch, dass er wünsche, dass sich die jungen Menschen mit der NS-Vergangenheit auseinandersetzen und die Gründe für diesen Zivilisationsbruch zu verstehen versuchen. [14] Wir werden im zweiten Teil dieses Artikels dem nachgehen, warum es für viele Menschen sehr viel einfacher ist, vermeintlich aus der Geschichte gezogene Lehren zu vertreten, als wirklich zu verstehen, wie es eigentlich zu dieser Geschichte kommen konnte.
[1] Vgl. hierzu meinen Blogbeitrag „Autisten und die Hyperlexie“.
[2] Boris Böhm (Hrsg.), „Wird heute nach einer Landes-Heil- und Pflegeanstalt in Sachsen überführt.“ Die Ermordung ostpreußischer Patienten in der nationalsozialistischen Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein 1941, Leipziger Universitätsverlag 2015.
[3] Siehe Christine Beil, „…überaus harte Maßnahmen müssen getroffen werden. Wehrmachtssoldaten als Opfer nationalsozialistischer „Euthanasie“-Morde. In: Neue Zürcher Zeitung vom 28.9.2002.
[4] Dies schrieb der Historiker Sebastian Haffner (1907-1999) in seinem berühmten Essay über Hitler, den ich während meines Studiums las. Vgl. Sebastian Haffner, Anmerkungen zu Hitler, Frankfurt am Main 1981, S. 187.
[5] Manuel Ladiges, Die Leipziger Kriegsverbrecherprozesse nach dem Ersten Weltkrieg, in: Neue Zeitschrift für Wehrrecht, Jg. 2019, Heft 5, S. 190
[6] Thomas Schilter, Unmenschliches Ermessen. Die nationalsozialistische "Euthanasie"-Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein 1940/41, Leipzig 1999.
[7] Simone Weil, Schwerkraft und Gnade, München 1952, S.102.
[8] Heinz Faulstich: Goebbels’ Tagebücher und der Abbruch der „Aktion T4“. In: Christian Gerlach (Hrsg.), „Durchschnittstäter“ – Handeln und Motivation, Berlin 2000, S. 211-2012.
[9] Dies erzählte ein Pirnaer Bürger einigen Journalisten der taz, die die mit dem Entstehen der Gedenkstätte verbundenen Vorgänge auf dem Sonnenstein journalistisch begleitete.
[10] Peter Löffler (Hrsg.), Bischof Clemens August Graf von Galen. Akten, Briefe und Predigten 1933–1946, Paderborn/München u.a. 1996, S. 869.
[11] Euthanasiepredigt des Bischofs von Münster, Clemens August von Galen, vom 3.August 1941.
[12] Die spätere Einsetzung der während der Aktion T4 erprobten Mordmethoden im Holocaust führt unweigerlich zu der Frage, wie beides zusammenhängt und darüber bestehen nach wie vor unterschiedliche Positionen, denn bereits die Frage, wie es eigentlich zur Entscheidung für die Umsetzung des Holocaust kam, wird von Forschern unterschiedlich beantwortet. Weitgehende Gemeinsamkeiten sind jedoch, dass er keine von vornherein feststehende Entscheidung war, sondern sich in Wechselwirkung mit der Kriegslage entwickelte und sich von unorganisierten Massakern im Polenfeldzug hin zu umfassenderen Deportationsplänen und Massenerschießungen und schließlich zum Bau von Vernichtungslagern entwickelte. Die wichtigsten Entscheidungen für eine systematische Ermordung der europäischen Juden fielen Ende des Jahres 1941. Zuvor hatte Hitler noch den Plan, sie durch Zwangsaussiedlung in entlegene Gebiete loswerden zu wollen, wozu auch der sog. „Madagaskarplan“ gehörte.
[13] Stephan Lehnstaedt, Der Kern des Holocaust: Belzec, Sobibor, Treblinka und die Aktion Reinhardt, München 2017.
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