Autismus und die Hyperlexie

Ein paar einleitende Worte

 

„Ich habe leider keine Hyperlexie. Unsere Autisten lesen alle mindestens ein Buch am Tag, aber ich schaffe nicht mal eins in der Woche. Bitte entschuldigen Sie also, wenn ich etwas länger brauche“ - sagte meine Therapeutin, nachdem ich ihr den Ausdruck einer E-Mail reichte, die ich zur Klärung eines Problems an meinen Arbeitskollegen geschickt hatte. Ich war müde und das war eine angenehme Möglichkeit, ihr die Situation verständlich zu machen, ohne sie erklären zu müssen. Denn ich wusste, dass ich meine Redeenergie für die darauffolgende Diskussion brauchen würde. Ich hatte in der Vergangenheit zu oft den Fehler gemacht, mich schon im Vorfeld mit der umfangreichen Schilderung eines Problems so erschöpft zu haben, dass mir danach die Energie für eine Diskussion zu seiner Lösung fehlte, obgleich doch dies eigentlich mein Anliegen gewesen war. So erschöpften sich meine ergänzenden Erklärungen lediglich in einigen wenigen Sätzen. Denn ich wusste, dass auch eine Therapeutin nicht meine Gedanken lesen konnte und deshalb zwangsläufig nicht unbedingt erkennen würde, was der Grund dafür war, dass ich auf ihre Argumente nur noch mit „Hm“, sowie Nicken und Kopfschütteln antwortete. Diese Strategie hatte bisher meistens funktioniert. Aber auch hierbei kann der Fehler passieren, der Nicht-Autisten [1] im Umgang mit Autisten häufig unterläuft: Dass das Gegenüber ganz anders funktioniert als man selbst. Und das beinhaltet, dass Nicht-Autisten in der Regel nicht so schnell so viele Informationen auf einmal aufnehmen können wie Autisten - in dem Fall über das Lesen. Das wusste ich zwar, aber ich wusste oft nicht genau, wie groß das Ausmaß dieses Unterschiedes eigentlich war. Und damit kommen wir zu unserem Thema: Hyperlexie.

     Auf das Thema war ich zugegebenermaßen nicht durch diese Episode gekommen. Ich hatte es in einer früheren Sitzung schon einmal angesprochen. Und im Rückgriff darauf korrigierte die Therapeutin meine etwas überzogenen Erwartungen an ihre Lesegeschwindigkeit mit einem Augenzwinkern.

 

Was meint diese sogenannte „Hyperlexie“ eigentlich?

 

Kurz gesagt, es gibt keine einheitliche Definition, aber einige Merkmale, die in allen Definitionen auftauchen. Vor allem das extrem frühe, in der Regel ohne Anleitung eines Lehrers erlernte, Lesen. Ich erinnere mich, dass ich, als ich in die Schule kam, tatsächlich nie das Gefühl hatte, ich würde das Lesen lernen. Ich schien es einfach zu können. Während die anderen Kinder noch mühsam Sätze wie „Lilo ist lieb“ entzifferten, blätterte ich ungeduldig zu den hinteren Seiten im Lesebuch, wo es richtige Texte mit interessanteren Inhalten zu lesen gab und wurde schlagartig aus dem Kontext und auf das Niveau der anderen zurückgerissen, wenn ich nicht im Blick behielt, wann ich mit Vorlesen dran wäre. Ich wurde ein oder zwei Mal dafür ermahnt, aber meiner Lehrerin verschwendete darauf nicht viel Energie, weil der Grund für mein Verhalten so offensichtlich und deshalb auch nachvollziehbar für sie war: Meine Lesefähigkeiten lagen weit über dem Niveau meiner Klassenkameraden. Ich war die Bestleserin in meiner Klasse und keiner konnte es mit mir aufnehmen, wenn es ums Lesen ging. In einigen anderen Bereichen war ich hingegen deutlich geforderter mit Erklärungen, die meine Mitschüler scheinbar problemlos sofort verstanden, die ich aber erst in Ruhe zuhause in ihre Einzelteile zerlegen, überprüfen und teilweise neu zusammensetzen musste, bevor ich das Gefühl hatte, mithalten zu können.

 

Trotzdem habe ich auch keine Hyperlexie.

 

Denn Hyperlexie stellt - ähnlich wie die Fähigkeiten der sog. „Savants“ - eine isolierte Begabung dar, wenngleich es sich, anders als beim Savant-Syndrom, bei Hyperlexie nicht um eine eigenständige Diagnose handelt. Hyperlexie wird im Grunde ausschließlich bei frühkindlichen Autisten mit einer verminderten Intelligenz als Befund festgestellt. Und zwar dergestalt, dass die Kinder zwar scheinbar problemlos lesen lernen und auch sehr viel und scheinbar Alles lesen, die Inhalte des Gelesenen aber oft nicht begreifen. Zum Verständnis muss man hinzufügen: Wenn ein Kind Erwachsenbücher liest, wird es den Großteil des Gelesenen auch nicht verstehen. Denn ihm fehlt schlichtweg die nötige Lebenserfahrung, um die Inhalte einordnen zu können. Bei dem Problem der Hyperlexie handelt es sich aber nicht um einen Mangel an Erfahrung, sondern um eine Eigenart im System. Denn die Lesefähigkeit schließt nicht an gleichwertig ausgeprägte Fähigkeiten im Bereich des Denkens und der Sprachkompetenz an. Deswegen spricht man von einer isolierten Begabung. Die Kinder können zwar unglaublich große Mengen an Informationen aufnehmen und diese auch fast wortwörtlich wiedergeben, können diese aber nicht mit eigenen Worten erklären. Sie haben Probleme damit, die Informationen zu „entpacken“ und in einen neuen Kontext zu überführen. Es besteht Unsicherheit, warum das so ist. Vielleicht ist die Kapazität des Gehirns einfach schon aufgrund der schieren Informationsmenge an dieser Stelle ausgelastet. Auch ich kann hier nur vermuten. Das Problem in der Praxis für diese Kinder ist jedoch, dass Lehrer oft dazu neigen, sie zu überfordern, da sie von der Ausprägung der Lesefähigkeit auf das Ausmaß ihrer Intelligenz schließen.

     Autisten, die eine mindestens normale Intelligenz besitzen, sind demnach keine Hyperlexiker, da ihre Fähigkeiten sich nicht auf das Lesen beschränken. Die auffälligen Leser unter ihnen besitzen gemeinhin auch hohe Kompetenzen im Bereich des Schreibens, des Sprachverständnisses und beim Erwerb von Fremdsprachen. In diesem Fall spricht man von einer besonderen Begabung im sprachlichen Bereich, die auch Nichtautisten besitzen können.

 

Aber warum sticht der Autist mit der Geschwindigkeit und der Menge beim Lesen dennoch so auffällig hervor?

 

Es liegt mit großer Wahrscheinlichkeit an der speziellen Art der Informationsverarbeitung bei Autisten. Ein Autist nimmt deutlich mehr Informationen bewusst wahr und verarbeitet diese auch bewusst, sofern sich seine Intelligenz auf einem zumindest normalen Niveau durchzieht und nicht abbricht, sobald sie einen bestimmten Bereich verlässt. So erschließt er sich Sachverhalte oder Situationen. Man wird im ersten Moment denken, dass Nicht-Autisten dies genauso machen würden: Informationen wahrnehmen, verarbeiten und reagieren. Das stimmt aber nicht so ganz. Das ist ein Modell, das so nur auf Computer zutrifft, aber nicht auf Menschen. In der Psychologie gibt es die Vorstellung, dass das Bewusstsein einem Flaschenhals gleicht: Es geht relativ wenig auf einmal durch. Die Kapazität der Informationsaufnahme und -verarbeitung von „normalen“ Menschen ist sehr begrenzt und die Wahrnehmung einer Situation entsprechend selektiv. Dieses Modell wird heute weitgehend abgelehnt, stattdessen spricht man lieber von verschiedenen sozialen oder kulturellen Filtern, die viele Informationen bereits im Vorfeld aussieben. Das Ergebnis der beiden Modelle läuft aber auf das gleiche hinaus: Es landet nur ein Bruchteil der aufgenommenen Informationen im aktiven Bewusstsein. Dass sie dennoch sehr schnell auf diese reagieren können, liegt daran, dass ihr Gehirn etwas tut, das man Prädikation nennt: Vorwegnahme. Das Bewusstsein eines Nicht-Autisten arbeitet mit einem Modell der Wirklichkeit, das mit den Informationen, die er aufnehmen kann, einfach nur „geupdated“ wird, und durch die Aktualisierung seiner Modelle reagiert er auf eine Situation[2]. Sie ermöglichen ihm, sehr schnell zu reagieren. Bei einem Autisten funktioniert dies jedoch zumeist nicht. Ein Autist erschließt sich eine Situation fast ausschließlich durch seine Wahrnehmung und nur sehr gering durch vorwegnehmende Anteile. Kurz: Er bastelt das Modell für die Situation im Gedanken jedes Mal neu und updatet nicht einfach nur ein bereits bestehendes Modell. Wahrscheinlich sind die Anteile an Wahrnehmung und Prädikation denen des Nicht-Autisten proportional entgegensetzt. Das macht Autisten vergleichsweise langsam. Die Betonung liegt dabei in der Tat auf dem Wort „Vergleich“, denn gemessen an der Informationsmenge, die Autisten dabei verarbeiten, sind sie überhaupt nicht langsam, sondern sogar sehr schnell. Es gibt auch durchaus Autisten, die es in der Reaktionsgeschwindigkeit trotzdem gut mit Nicht-Autisten aufnehmen können. Das erfordert aber viel Übung, viel Lebenserfahrung, viel kontextbezogenes Wissen und viel Findigkeit. Und verbraucht vor allem sehr viel Energie. Auch für diese Ausnahmen unter den Autisten ist die Notwendigkeit, in Gesprächen mit derselben Geschwindigkeit wie ein Nicht-Autist reagieren zu müssen, ein permanenter Stressfaktor. Die Zeit für die Auswertung, die ein Autist für eine Antwort benötigen würde, die sowohl sozial als auch inhaltlich angemessen ist, wird ihm oft nicht gegeben. Dies erklärt die, auch bei normal intelligenten Autisten, oft beobachtete Unbeholfenheit und ihr linkisches Verhalten in der Kommunikation.

 

Und jetzt?

 

Der heutige Fokus bei Gesprächen über Autismus liegt oft auf dem Konzeptblock von Wahrnehmung und Reizüberflutung. Nachdem die psychiatrische Forschung Autisten lange nur schlicht mangelnde Fähigkeiten in der Kommunikation und im Sozialverhalten attestiert hatte, brachten sich seit den 2000er Jahren immer mehr Autisten mit ihren persönlichen Erfahrungen in den Diskurs ein und schilderten die spezifische Wahrnehmung als eigentlichen Auslöser dieses abweichenden Verhaltens. Das war ein sehr wichtiger Schritt, durch den sich die Wahrnehmung von Autismus als Phänomen auf diese Bereiche verlagerte. Heute sieht es hingegen so aus, als wäre der eigentliche Unterschied nicht die Wahrnehmung, sondern das, was das Gehirn mit dieser Wahrnehmung anstellt. Gemessen an den hiesigen Ausführungen, ist es deshalb durchaus gerechtfertigt, im Falle von Autismus mehr von einer Neurodiversität als einer Wahrnehmungsstörung zu sprechen. Viele Konzepte, wie die autistische Wahrnehmung, Kommunikation, und Situationshandhabung, die mit diesem Thema verbunden sind, konnten in diesem Beitrag selbstverständlich nur angerissen werden. Wir widmen uns ihnen in späteren Artikeln wieder.

     „Für heute entlasse ich Sie aus der Sitzung. Ich wünsche Ihnen viel Erholung auf dem Land", sagte meine Therapeutin. "Bestimmt werden Sie auch wieder viel lesen.“ Ich hielt die Zeigefinger etwa so hoch, wie eine Hand lang, auseinander: „Ich habe nur so einen Stapel dabei.“ Zwei Fachbücher, einen Roman, einen Reisebericht und einen Gedichtband.                    

 



[1] Mir ist bewusst, dass sich hierfür eigentlich das Wort „Neurotypisch“ eingebürgert hat. Ich verwende dieses Wort aber aus verschiedenen Gründen nicht sehr gern. Denn mir ist der Begriff einfach zu unspezifisch: Auch ein Nicht-Autist kann alles andere als im neurologischen Sinne typisch sein, und trotzdem nicht wissen, wie es in einem Autisten aussieht. Zweitens bestehen auch zwischen den sog. „Neurodiversen“, sehr große Unterschiede. Bereits AD(H)Sler und Autisten unterscheiden sich hier, trotz gewisser Ähnlichkeiten, extrem. Zwar weisen beide einige ähnliche Verhaltensweisen auf - z.B. scheinbar unangemessenes Verhalten im der Kommunikation - dem liegen jedoch sehr verschiedene Ursachen zugrunde. Deshalb ziehe ich es oft vor, einfach die jeweiligen Diagnosen zu benennen, anstatt verallgemeinernd von „Neurodiversität“ zu sprechen.

[2] Peter Vermeulen, Autismus und das prädikative Gehirn. Absolutes Denken in einer relativen Welt, Freiburg im Breisgau 2024, S. 24-56. 

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